Ein Gastbeitrag von Christian Dimmer aus PLANERIN. Mitgliederfachzeitschrift für Stadt-, Regional und Landesplanung, Heft 5/2013″ mit einem Vorwort von Tim Schneider

Vorwort

Japan im Umbruch. Der Wandel gesellschaftlicher Leitbilder, soziologischer Strukturen und der gebauten Realität ist allerorten spürbar. In den Metropolen der Ebenen entlang der Küste wie im gebirgigen Hinterland.

Japan wird bunt. Japan wird wie andere postindustrielle Gesellschaften auch immer facettenreicher und vielgestaltiger. Alte Rollenbilder weichen auf, neue kommen hinzu. In loser Folge sollen hier Artikel über aktuelle Entwicklungen in Japan berichten.

Begonnen wird mit einem Artikel über wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen im Japan der Großstädte wie auch des ländlichen Raums sowie über bemerkenswerte Aktivitäten des Gegensteuerns.

„Kultur, Kommerz, Community – Kunst als Mittel der Stadterneuerung in Japan“ von Christian Dimmer, Ph.D., Universität von Tokyo, 2013

Das Schlagwort „Creative City“ oder „kreative Stadt“ ist mit einiger Verspätung auch bei der Wiederbelebung japanischer Innenstädte ein vielgebrauchtes Zauberwort geworden. Wie viele ihrer deutschen Pendants sind die meisten Stadtkerne in Japan und selbst Teile der Metropole Tokyo einer Überalterung, dem Verfall von Nachbarschaftsstrukturen,  ökonomischem Strukturwandel und Leerstand ausgesetzt. Alleine in der Hauptstadt gibt es beispielsweise rd. 750.000 leer stehende Wohnungen oder Häuser. In großen Städten wie Tokyo, Yokohama oder Osaka, die während Japans  Immobilienboom  in den  1980er-Jahren durch stark steigende Bodenpreise  massiv an Wohnbevölkerung ein- büßten, spielen nun Kultur, Kreativität und Kunst im Prozess einer angestrebten Reurbanisierung  weitgehend nutzungsentmischter Zentrumsbereiche eine eine zunehmend wichtige Rolle. Die von oben verordnete Creative-City-Initiativen der Städte, aber auch diejenigen einflussreicher Immobilienentwickler zielen darauf ab, sich auf den Schaltkreisen der Global Cities zu verorten und  das kreative Potenzial für eine wirtschaftliche Revitalisierung zu mobilisieren, um die Städte  für den verschärften  interkommunalen sowie internationalen Standortwettbewerb zu positionieren.

 Triennalisierungvon Stadterneuerung

Die Aufwertung  zentralstädtischer öffentlicher Räume und die temporäre Nutzung von leeren Gebäuden und Brachflächen sowie deren Bespielung mit Events im Rahmen großer, internationaler Kunstveranstaltungen hat dabei so wie anderswo auf der Welt zu einer regelrechten „Triennalisierung“  (siehe Marchart 2008) von unternehmerisch geprägter Stadtentwicklungspolitik geführt, mit dem Ziel, Investitionen, Städtetourismus oder die „kreative Klasse“ anzulocken (siehe Florida 2003).

Aufwendig inszenierte, dezentrale, innerstädtische Kunst-Events wie etwa die internationale Triennale für zeitgenössische Kunst in Yokohama  (seit 2001, www.yokohamatriennale.jp), die Aqua-Metropolis-Ausstellung in Osaka (seit 2009, www.osaka-info.jp/suito) oder die Aichi Triennale in Zentral-Nagoya (seit 2010, www.aichitriennale.jp) nehmen dabei eine immer zentralere Rolle für die strategische Aufwertung der Zentrumsbereiche ein.

Wurden noch bis Ende der 1990er-Jahre viele Kunstwerke nur in Galerien und Museen  zum passiven Erleben gezeigt, so wandelte sich dieses eher elitäre und statische Kunstverständnis in den letzten Jahren: Die Kunst ist prozesshafter geworden und aus den Museen in die städtischen Räume gewandert. Oftmals aber sind diese Kunstprojekte  eher Bestandteile  von oben verordneter Stadtaufwertungsinszenierungen und streben weniger kreatives Mitgestalten an der Gesellschaft im Sinne von Beuys’ sozialer Plastik oder der Situationisten um Guy Debord an.

Creative City, Soziale Stadt,  Kunst

Seit 2004 ist zum Beispiel die Yokohama Triennale integraler Bestandteil des offiziellen Creative-City-Programms der Stadt. Unter Einbeziehung der Bürger und unter Ausnutzung historischer Potenziale und leer stehender Gebäude soll ein „kreatives Milieu“ geschaffen werden,  „wo Kulturschaffende gerne wohnen möchten“, um so die lokale Wirtschaft zu beleben  (www.city.yokohama.lg.jp/bunka/soutoshi). Um den Bahnhof Koganecho herum übernahm die Stadtverwaltung 2006 beispielsweise die Initiative bei einem bereits vorher durch die Anwohner initiierten Erneuerungsprojekt. Dies zielte ursprünglich darauf  ab, die Gegend von Prostitution und der damit verbundenen Kriminalität zu befreien. Die Stadt half bei der Renovierung und Vermietung ehemaliger Bordelle an Kreative und Kunstschaffende und machte das Areal schließlich als „Koganecho Bazar“ zu einem offiziellen externen Standort  der Yokohama Triennale 2011. Durch diesen und andere „tie-ups“ oder Verknüpfungen mit existierenden zivilgesellschaftlichen Initiativen versucht Yokohama, bürgerliches Engagement zu aktivieren und die soziale Dimension von Nachhaltigkeit zu stärken.

 Von Rotlichtviertel zu Tokyos Kunstdreieck

Seit dem Platzen von Japans Immobilienblase im Jahre 1992 hat sich ein starker Standortwettbewerb zwischen zentralen, jeweils von einzelnen, großen Immobilienentwicklern dominierten Büro-, Geschäfts- und Einkaufsquartieren entwickelt. Kunst sowie eine Festivalisierung des öffentlichen Raumes spielen dabei eine wichtige Rolle, um zahlungskräftige Mieter und Besucher anzulocken  und Medienaufmerksamkeit zu generieren (siehe Dimmer 2012). Ein prominentes Beispiel ist dabei die gezielte Auf- und Umwertung des noch vor einigen Jahren als verrucht geltenden Amüsierviertels Roppongi im Bezirk Minato. Seit der Fertigstellung des massigen Roppongi-Hills-Komplexes (2003) durch den Immobilienkonzern Mori Building mit seinem Mori Art Mu- seum hoch oben im 53. Stock entstand langsam ein neues Epizenturm von Tokyos Kunstwelt.

2007  öffnete  in der Nachbarschaft  das von Kisho Kurokawa  entworfene National Arts Center Tokyo seine Tore. Das im gleichen Jahr von der Entwicklungsfirma Mitsui getragene Großprojekt  Tokyo Midtown  mit dem von Kengo  Kuma entworfenen Suntory  Kunstmuseum  und  dem von Tadao Ando in eine riesige Grünfläche eingebetteten „21_21 Design Site“ machte  die Transformation des ehemaligen Schmuddelviertels Roppongi in Tokyos neues Kunstdreieck komplett. Seit 2009 findet nun jährlich das Großspektakel  Roppongi Art Night in den öffentlichen  Räumen zwischen  den  drei Kunstmagneten statt, das von dem in den Straßen von Paris stattfindenden Kunstevent Nuit Blanche (2002) inspiriert wurde.

Wiederentdeckung des  ländlichen Japans

Nicht nur im Zusammenhang mit der international viel dis- kutierten Renaissance der Stadt, sondern  auch bei der Revi- talisierung von Japans strukturschwachen ländlichen Räu- men  hat  eine regelrechte Triennalisierung eingesetzt. Ein sehr erfolgreiches, frühes Beispiel ist die Echigo Tsumari Kunst Triennale (www.echigo-tsumari.jp), die seit 2000 in einer landwirtschaftlich geprägten Gebirgsregion  der Präfektur Niigata stattfindet und sich nach kurzer Zeit zu einem der weltgrößten Freiluft-Kunstfestivals entwickelt  hat. Mit 760 km²  entspricht die Region – in der zuletzt im Jahr 2012 367 Kunstwerke von 310 Künstlern aus 44 Ländern direkt in der Landschaft oder in leer stehenden Gebäuden ausgestellt wurden  – in etwa der Ausdehnung der Metropolregion Tokyo. Seit 2000 zog die Veranstaltung weit über 1 Mio. Besucher in diese durch demografischen Wandel geschwächte Region und trug dazu bei, das Problembewusstsein für Überalterung und Abwanderung aus den ländlichen Räumen in der japanischen  Gesellschaft zu schärfen.

Ein zweites wichtiges Kunstfestival an Japans Peripherie ist die Internationale Setouchi Kunst Triennale (www.setou-chi-artfest.jp),  die erstmals 2010 auf zwölf entlegenen Inseln der Seto-Inlandsee  stattfand und sogar 940.000 Besucher im ersten Jahr anlockte.

Zivilgesellschaftliche Initiativen

Neben diesen großen, vielfach publizierten Veranstaltungen, die erheblichen  Einfluss auf die Investitionsentscheidungen und gesamtstädtischen Entwicklungsszenarien verstärkt unternehmerisch agierender Kommunen  und Regionen nehmen, gibt es aber auch eine Vielzahl kleinmaßstäblicher Projekte, die an der Schnittstelle von Aktivismus und Kunst auf der Mikroebene zu einer Revitalisierung von ganzen Nachbarschaften beitragen.

Obwohl  die Bevölkerung des Gesamtraums Tokyo immer noch anwächst, sind viele Stadtquartiere selektiv mit Leerstand, Überalterung und Verlust historischer Bausubstanz oder Freiräumen konfrontiert. Anders als die diskutierten  Großveranstaltungen entwickelten sich diese Graswurzelinitiativen weitgehend ohne staatliche Unterstützung aus zivilgesellschaftlichem Engagement heraus  und trugen entscheidend zur Aufwertung benachteiligter Quartiere bei.

Ein wichtiges Beispiel ist Ya-Ne-Sen – ein Gebiet in der Nähe von Tokyos altem Unterzentrum Ueno, dessen Name eine Neuschöpfung ist aus den Anfangsbuchstaben der drei zwar benachbarten, aber sozial-geschichtlich unabhängigen Nachbarschaften Yanaka, Nezu und Sendagi. Eine neue, übergreifende Quartiersidentität wurde  hier durch die vielfach preisgekrönte Nachbarschaftszeitung „Ya-Ne-Sen“ (www.yanesen.net) geschaffen, die von drei Hausfrauen ab 1984  herausgebracht wurde  und die sich mit örtlicher Geschichte, Baudenkmälern und anderen stadträumlichen Besonderheiten dieser dicht mit ein- bis zweistöckigen  traditionellen Holzhäusern bebauten Gegend auseinandersetzte. Ebenfalls eine wichtige Rolle spielte die dezentrale Kunst- und Handwerksaustellung Geikoten  (www.geikoten.net), die von ehemaligen Studenten der nahegelegenen Tokyo Universität der Künste und interessierten Bürgern seit 1993 auf Brachflächen, in leer stehenden Gebäuden und in kleinen Galerien verstreut in Yanaka, Nezu und Sendagi stattfindet. Ziel dieser jährlich für zwei Wochen stattfindenden Veranstaltung ist die Förderung lokaler Künstler und die spielerische Einbeziehung der Bürger in das Kunstschaffen. Darüber hinaus werden  die Besucher dazu animiert, unbe- kannte Facetten der Nachbarschaft  in den engen,  labyrinthartigen Gassen des Ya-Ne-Sen-Quartiers zu erkunden, die die verschiedenen Ausstellungsflächen verknüpfen.

Auch außerhalb der jährlichen Ausststellungswochen gibt es regelmäßig Nachbarschaftsevents in Ya-Ne-Sen, und nach und nach haben sich immer mehr Galerien und Kunsthandwerksbetriebe dort angesiedelt. Eine kleine, private Freifläche etwa, die ein lokaler Architekt ursprünglich für den Bau eines Einfamilienhauses erworben hatte, dient seit 2006 als „Inkubator“ von Nachbarschaftsaktivitäten. Für einen für Zentral-Tokyo geringen  Unkostenbeitrag von 15 € pro Tag kann jeder die günstig gelegene Brache unbürokratisch nutzen. Regelmäßig finden hier Ausstellungen, Theateraufführungen, Freilichtwerkstätten für Kinder, Bauernmärkte, Informationsveranstaltungen und Flohmärkte statt.

Auf der „Leihbrache“ finden vielfältige Nachbarschaftsakivitäten statt   (Foto: Toshiyuki Makizumi)
Auf der „Leihbrache“ finden vielfältige Nachbarschaftsakivitäten statt (Foto: Toshiyuki Makizumi)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den vergangenen zehn Jahren Kunst und Kreativität eine immer stärkere Rolle bei Stadt- und Regionalentwicklung spielen. Während bereits in den 1990er-Jahren wichtige zivilgesellschaftliche Initiativen auf der Mikroebene versucht  haben, Problemviertel zu revitalisieren, ist es seit Mitte der 2000er-Jahre zu einer wahren Explosion an von oben verordneten Creative-City-Initiativen gekommen. Die Übergänge zwischen Kunst und Kommerz sind dabei fließend, da viele ehemals rein zivilgesellschaftliche Projekte später von großen Entwicklerfirmen oder Kommunen aus Gründen des Standortmarketings unterstützt werden.

Christian Dimmer, Ph. D., Raum- und Umweltplaner,  Assistenz Professor für Städtebau und Stadtforschung, Universität von Tokyo

Quellen

Dimmer, Christian (2012): Re-imagining Public Space: The vicissitudes of Japan’s privately owned  public spaces, in: Brumann, C.; Schulz, E. (Hg.) (2012): Urban Spaces in Japan: Cultural and Social Perspectives, S. 74–105

Florida, Richard (2003): The Rise of the Creative Class: And How It’s Trans- forming Work, Leisure, Community and Everyday Life. New York

Marchart, Oliver (2008): Hegemonie  Im Kunstfeld: Die Documenta-Aus- stellungen  dX, D11, D12 Und Die Politik Der Biennalisierung. Köln

Über Christian Dimmer

Christian Dimmer, PhD. Stadtforscher. Studium der Raum- und Umweltplanung an der Technischen Universität Kaiserslautern. Assistenzprofessor an der Universität von Tokyo, wo er im Fachbereich Städtebauwesen promovierte (Urban Design Lab, University of Tokyo). Als Post-Doktorand und Stipendiat der Japan Society for the Promotion of Science (JSPS) war er Mitarbeiter am interdisziplinären Fachbereich ‚Interfakulty Initiative in Information Studies’ der Universität von Tokyo und forschte über „die Politik{en} des öffentlichen Raums“.

Als städtebaulicher Berater arbeitete er mit Architekturbüros wie Arata Isozaki & Associates zusammen sowie mit Immobilienentwicklern wie Mitsubishi Estate. Er ist Mitbegründer der Tokyoter Ortsgruppe der gemeinnützigen Hilfsorganisation Architecture For Humanity wie auch des Tohoku Planning Forum und unterrichtet Kurse in nachhaltigem Städtebau, Theorien zum öffentlichem Raum, Metropolen im Globalisierungsprozess sowie Planungstheorie an der Waseda-Universität.

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